Rede anlässlich der Verleihung des 1. Forschungspreises der Stiftung für Personengeschichte in Bensheim am 23. November 2010

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte zunächst den Stiftungs- und Beiratsmitgliedern, sowie allen weiteren Förderern und Mitarbeitern des Instituts für Personengeschichte meinen Dank für die Anerkennung des Forschungspreises und die heutige Festveranstaltung aussprechen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich nicht nur dafür bedanken, dass der Preis mir persönlich zuerkannt wurde, sondern auch allgemein dafür, dass sie beschlossen haben, einen Vertreter des akademischen Nachwuchs auszuzeichnen. Hierin sehe nicht nur für mich selbst, sondern auch für andere junge Akademiker eine Motivation sich dem verdienstvollen Forschungsfeld Personengeschichte zu widmen.

Ich werde nun die folgenden Minuten nutzen, um ihnen die im Zuge meiner biographischen Studie über den österreichischen Staatsreformer Joseph von Sonnenfels entstandenen methodischen Überlegungen zur Personengeschichte, genauer gesagt zur Biographie als Darstellungsform der Geschichtswissenschaft, darzulegen.

Hierfür möchte ich mit einem oft zitierten und wunderbar pointierten Satz beginnen, mit dem die Literaturwissenschaftlerin Deirdre Bair im Jahr 2001 einen Artikel in der Zeitschrift Literaturen überschrieb: „Biographie ist akademischer Selbstmord.“[1] Dieser Satz wirkt ein wenig seltsam angesichts der aktuellen Entwicklung im Fach Geschichte, denn zum einen offenbart doch ein einfacher Blick in den Rezensionsteil neuerer Fachzeitschriften eine reiche Bandbreite neuer biographischer Literatur und zum anderen nehmen Lebenserzählungen schon lange eine führende Rolle auf dem Markt für Sachbücher ein. Dementsprechend scheint die Biographie für einen oberflächlichen Betrachter sowohl populär- als auch fachwissenschaftlich seit dem neunzehnten Jahrhundert wie ein Fels in der Brandung der Geschichtswissenschaft zu stehen.

Das kurze Zitat Bairs mit dem sie einen Artikel darüber einleitet, dass ihr selbst als junger Wissenschaftlerin davon abgeraten wurde, in ihrer akademischen Qualifikationsphase eine Biographie anzufertigen, verweist jedoch darauf, dass es sich hierbei um einen trügerischen Eindruck handelt. Tatsächlich war die Biographie als Form wissenschaftlicher Betrachtung und Darstellung zeitweise weitaus umstrittener als der aktuelle Eindruck vermittelt. Daher kann und sollte sie heute eher als das Ergebnis eines inzwischen Jahrhunderte überspannenden Entwicklungsprozesses angesehen und nicht für ein methodisches Relikt vergangener Zeiten gehalten werden.

Leider besteht an dieser Stelle keine Möglichkeit, die Geschichte der Biographie in der historischen Wissenschaft ausführlich darzulegen. Dennoch möchte ich den Versuch unternehmen, einige vereinfachte Entwicklungsschritte dieses Genres herauszugreifen, die in meinen Augen seine Evolution veranschaulichen und die außerdem meine eigenen Überlegungen beeinflussten, die ich ihnen im Anschluss vorstellen werde.

Betrachten wir daher zunächst die Situation am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, für die sich eine starke Präsenz wissenschaftlicher Biographien historischer Persönlichkeiten konstatieren lässt. Zu dieser Zeit wurde das Individuum üblicherweise als eine herausragende Gestalt porträtiert, die ihre soziale Umwelt prägte und Einfluss auf historische Entwicklungen nehmen konnte. Im Mittelpunkt des Interesses stand fast immer ein westeuropäischer Mann oder eine Frau, die sich in einer Sphäre bewährt hatte, die als männlich dominiert galt, wie beispielsweise eine Herrscherin oder Gelehrte. In den Darstellungen bemühte man sich um eine Balance dreier Elemente: Erstens dem Wirken des Individuums, zweitens seiner Verbindung zum historischen Kontext und drittens seiner Gedanken- und Gefühlswelt mit dem darin vermuteten Genie, das die Außergewöhnlichkeit der beschriebenen Person begründet. Ihren wissenschaftlichen Anspruch bezogen diese Darstellungen aus Bezugnahme auf Quellen, durch deren positivistische Aufbereitung die Wahrheit über die Hauptperson und eine Antwort auf die Frage gefunden werden sollte, wie, frei nach Heinrich von Treitschke, 'große Männer Geschichte machen'.

Schon bald drängte parallel zu den personengeschichtlichen Werken der Fachwissenschaftler auch eine Vielzahl populärwissenschaftlicher Darstellungen auf den Markt, denen die akademische Geschichtsschreibung durchaus kritisch gegenüberstand. Ich verweise auf die damaligen Differenzen, weil darin mehrere, bis heute verwendete Argumente aufscheinen. Dies gilt beispielsweise für den Vorwurf, populäre Biographien würden durch Befriedigung einer unsachgemäßen Neugier auf private oder gar intime Details bekannter Persönlichkeiten lediglich kommerziellen Interessen dienen oder für die Kritik an den lückenhaften Anmerkungen und Nachweisen, welche aus mangelnder Wissenschaftlichkeit der Darstellungen resultieren. Außerdem wurde die offene Bevorzugung der Erzählleistung gegenüber der Rechercheleistung abgelehnt, da sich im akademischen Kontext zeitgleich eine Entwicklung von einer Gleichberechtigung beider Elemente hin zu einer höheren Würdigung der wissenschaftlichen gegenüber der literarischen Leistung vollzog.

Im letzteren Argument kommt ein bis heute zu beobachtendes Spannungsverhältnis zwischen den Eigenschaften einer Biographie als Lebenserzählung einerseits und als wissenschaftliche Analyse eines Lebenslaufes andererseits zum Ausdruck. Die bereits auf antike Vorbilder zurückgehende Nähe des Genres zur Literatur bietet bis in die Gegenwart Ansatz für Kritik von verschiedener Seite, so dass Historiker sich mit einem biographischen Projekt oftmals in eine Zwickmühle zwischen wissenschaftlicher oder literarischer Anerkennung beziehungsweise Ablehnung ihrer Arbeit begeben.

Hinzu kommt, dass die Biographie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wie in der Gegenwart als Darstellungsform keineswegs allein Historikern vorbehalten bleibt. Sie war und ist ein Genre, dass wie Personengeschichte im Allgemeinen von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, wie beispielsweise Literaturwissenschaft, Medizin, Psychologie oder Rechtswissenschaft genutzt werden kann, die jeweils eigene Fragen und Methoden einbringen und völlig verschiedene Biographien derselben Persönlichkeit hervorbringen können. Daraus resultiert der bis heute verbreitete Ruf einer methodischen Beliebigkeit, der - worauf das Zitat von Deidre Bair verweist -, das Genre ungeeignet für akademische Qualifikationsarbeiten erscheinen ließ, bei denen methodische Präzision prinzipiell eine Schlüsselrolle spielt.

Abhilfe für den schwierigen Umgang der Geschichtswissenschaft mit der Darstellungsform Biographie, die in einer umfassenden methodischen Auseinandersetzung gefunden werden könnte, wurde jedoch dadurch verhindert, dass die Historiker sich nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend von personenbezogenen Betrachtungsweisen abwandten. Diese Entwicklung verschärfte sich in den siebziger Jahren, als sozial- und strukturgeschichtliche Fragestellungen Vorrang gewannen und das Individuum als Forschungsgegenstand an Bedeutung verlor. Das Leben des Einzelnen galt als ein Ausdruck und Produkt gesellschaftlicher Zusammenhänge und angesichts der Suche nach Phänomenen langer Dauer und der Frage nach der Existenz und Wirkung von übergreifenden Strukturen in der Geschichte schien die Betrachtung von Individuen nur geringe Erkenntnisse zu versprechen.

Allerdings war das Interesse an Personen und ihrer Rolle in der Geschichte zu dieser Zeit zwar eingeschränkt, aber keineswegs erloschen. Bereits Ende der siebziger Jahre suchte man neue Zugänge und Methoden, die im folgenden Jahrzehnt zu einer ersten Renaissance des Genres führten. Man wandte sich von den früher einmal zentralen ‛großen Gestalten’ ab und den Randgruppen und Unterschichten zu. Kollektive Biographien, die aus individuellen Lebensläufen Gemeinsamkeiten destillierten und dadurch das Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge beleuchten, fanden zunehmend Verbreitung und ergänzten das methodische Arsenal ebenso wie die Verbindung der Biographie mit neuen Forschungsrichtungen wie Geschlechter- oder Alltagsgeschichte. Hierbei bewies die Biographie erneut die hohe Flexibilität und Anschlussfähigkeit, die ihr früher zum Vorwurf gemacht wurde - diesmal allerdings in positivem Sinn. Allen neuen methodischen Ansätzen ist gemeinsam, dass das Individuum immer stärker in seiner Umwelt verankert wurde und kaum noch als exzeptionelle Heldengestalt porträtiert wurde, die einem Zeitalter ihren Stempel aufdrückte.

Während die Biographie langsam in die Geschichtswissenschaft zurückkehrte, brachte der französische Soziologie Pierre Bourdieu eine fundamentalen Kritik vor, die auch meine eigenen Überlegungen erheblich beeinflusst hat und die ihre Zuspitzung in dem Terminus der "biographischen Illusion" findet.[2] Damit beschreibt Bourdieu die von ihm als Irrglauben abgelehnte Auffassung, dass ein zielgerichteter Lebenslauf historischer Individuen, wie er in klassischen Biographien dargestellt wird, überhaupt erzählt werden könne. Stattdessen wirft er den Autoren vor, durch Aneinanderreihung fragmentarischer Stationen in chronologischer Reihenfolge und deren Verbindung zu einer stringenten Erzählung eher eine Biographie zu erfinden, anstatt sie zu analysieren.

Die überlieferten Stationen oder auch Fakten eines Lebensweges sind in Bourdieus Augen angesichts einer stets lückenhaften Überlieferung vereinzelt und haben für sich genommen keine Bedeutung, ebenso wie eine lückenhafte Beschreibung einiger U-Bahnstationen einem Betrachter keine Vorstellung von Aufbau und Funktionsweise des Schienennetzes vermittelt. Seiner Ansicht nach muss stattdessen das untersuchte Individuum in Gänze mit dessen gesellschaftlicher Umwelt verwoben werden. Dabei sollten die Verteilung und Wirkung unterschiedlicher Arten von Einflussmöglichkeiten, wie Vermögen, soziale Beziehungen oder kultureller Status untersucht werden, die Bourdieu als Kapitalformen bezeichnet. Dadurch sei es möglich die sozialen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, die den Lebensweg und die Handlungen eines Individuums bestimmen, so dass der Lebenslauf zum Ausgangspunkt und Baustein einer Gesellschaftsstudie wird.

In der Geschichtswissenschaft wurden diese Anregungen jedoch kaum aufgegriffen und bekräftigten meist nur die bereits angestoßene Tendenz, die untersuchten Akteure stärker mit dem Kontext ihrer Zeit zu verweben und nach den Rahmenbedingungen zu fragen, die ihr Handeln bestimmen.

Deutlich nachhaltigeren Erfolg hatte hingegen die Einbeziehung der Rezeptionsgeschichte in Biographien seit in den neunziger Jahren. Die Frage, wie sich kollektive oder individuelle Erinnerung an einen historischen Akteur entwickelt und wie sich die dargestellte Persönlichkeit dabei verändert oder vielleicht sogar völlig neu erfunden wird ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden. Selbst aktuelle Fernsehdokumentationen über 'große Persönlichkeiten' kommen nicht mehr ohne Anmerkungen zur Frage aus, wer zu welcher Zeit und zu welchem Zweck ein bestimmtes Bild von der dargestellten Person gezeichnet hat. Leider kehren populäre Darstellungen danach aber meist wieder zu einer spezifischen Version der Biographie zurück, für die dann ein durch die kritische Abgrenzung bekräftigter Anspruch auf Wahrheit erhoben wird. Dies ist bedauerlich, da viele neuere Arbeiten darauf verweisen, dass es keine singuläre Wahrheit für die Interpretation eines Lebenslaufes gibt - sondern dass aus denselben durch Recherche und quellenkrititische Studien geprüften Fakten durchaus unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden können.

Diese Erkenntnis leitet zum Ende der kurzen Übersicht und damit zur derzeitigen Lage der Biographie als geschichtswissenschaftliches Genre über, das seine Bedeutung - wie skizziert - nicht einfach behalten, sondern im Zuge eines Entwicklungsprozesses derart wiedererlangt hat, dass der Ratschlag, den Diedre Bair einst erhielt, heute kaum noch Gültigkeit beanspruchen kann. Inzwischen sind neben den noch immer dominanten männlichen und weiblichen Mitgliedern der europäischen Dynastien auch Angehörige aller Bevölkerungsgruppen aus früheren Metropolen ebenso wie aus Peripherien der Imperien als Individuen oder in Form von Gruppen zum Forschungsgegenstand geworden. Ihre Lebenswege werden durch enge Verbindung mit ihrer Umwelt mit großem Gewinn in übergreifende Fragestellungen eingebunden, die auf Erfahrungen der Sozialgeschichte ebenso wie auf die anderer Forschungsperspektiven zurückgreifen. Somit werden bei der Untersuchung von Individuen, wie auch in anderen mikrohistorischen Studien, Fassetten größerer Zusammenhänge gewissermaßen in der Nussschale der Lebenswege erkennbar.

Soweit zur kurzen Übersicht - auf die ich nun aufbauend die methodischen Überlegungen darlegen möchte, die meine eigene biographische Studie begleiteten. Zu Beginn sei hierfür noch einmal anhand weniger Schlagworte der Werdegang des Joseph von Sonnenfels beschrieben, der als Hauptperson im Mittelpunkt stand: Sonnenfels wuchs in Wien als Sohn eines konvertierten, aus Brandenburg stammenden Hebräischgelehrten auf. Er war einfacher Soldat, Buchhalter der kaiserlichen Leibgarde, Gerichtsdolmetscher, Professor für Polizeywissenschaft an der Wiener Universität, Autor von über drei Dutzend Monographien und mehreren populären Wochenschriften, Herausgeber, Zeitschriftenredakteur, Theater- und Bücherzensor, Freimaurer und Illuminat, erst Sekretär, dann Präsident der Akademie der bildenden Künste und zunächst als Regierungs- und später als Hofrat wesentlich an einer Neuordnung des Bildungs- und Polizeiwesens, des Straf- und Zivilrechts, sowie der Staatsverwaltung der Habsburgermonarchie beteiligt. Er setzte sich öffentlich für die Abschaffung von Folter und Todesstrafe ein, organisierte die Errichtung der ersten dauerhaften Straßenbeleuchtung Europas und etablierte die Ordnungswidrigkeit als Rechtsform im Wiener Alltag, wodurch falsches Parken und zu schnelles Fahren strafbar wurden.

Folgende Frage weckte bereits zu Beginn meiner Beschäftigung mit seiner Person meine Neugier und hielt sie für die folgenden drei Jahre am Leben: Wie hat Sonnenfels es geschafft, als ein sozialer Aufsteiger, ein 'homo novus', über einen Zeitraum von fünfzig Jahren unter vier Monarchen, deren politische Konzepte sich teilweise widersprachen und die unterschiedliche inneren Zirkel der Macht um sich schufen, immer wieder seine politischen Ideen in die Reformdiskussionen einzubringen?

Diese Leitfrage führte mich zu Bourdieus Anmerkungen zur Biographie, in denen er zur Erklärung von Einflussmöglichkeiten eines Individuums in dessen Umwelt neben anderen möglichen Faktoren auf die soziale Vernetzung eines Akteurs verweist, die er als das "soziale Kapital" bezeichnet.[3]

Wenn Bourdieu diesem sozialen Kapital auch geringere Bedeutung als anderen Machmitteln wie bspw. finanziellen Ressourcen beimisst, so erschien mir dieser Ansatz tragfähig zur Untersuchung der Karriere des Joseph von Sonnenfels, der immerhin binnen drei Jahren vom unbezahlten Jurapraktikanten zum Professor eines Faches wurde, dass er nicht einmal studiert hatte. Außerdem versprach diese Perspektive einen Ausweg aus dem allen Historikern leidlich bekannten Problem einer lückenhaften und manchmal wortwörtlich fragmentarischen Überlieferung. Dadurch, dass Sonnenfels' soziale Beziehungen in den Mittelpunkt der Recherche und der Darstellung rückten, wurde die Überlieferung aller Personen mit denen er nachweislich Kontakt hatte, aller Vorgesetzten, Kollegen, Konkurrenten, Rezensenten, Geschäftspartner und Studenten zum Betrachtungsgegenstand. Diese Perspektive ermöglichte eine erhebliche Ausweitung des Quellenmaterials, das dann in mehrmonatiger Recherche in verschiedenen Archiven zusammengetragen und in Listen von Akteuren und deren jeweiligen Beziehungsstrukturen systematisiert wurde.

Bei der Analyse stellte sich heraus, dass die klassische biographische Konstruktion eines in sich geschlossenen Lebenslaufes - eben jener Vorgang, den Bourdieu kritisiert hatte - kaum möglich ist, denn nicht einer, sondern mehrere verschiedene 'Joseph von Sonnenfels' traten aus den Quellen hervor.

So war er gleichzeitig ein "Herkules des Geistes“ und jemand, dem man Vorwarf, er habe nie einen eigenen Gedanken gehabt. Ebenso war für manche ein edler Mensch und treuester Freund und für andere "ohnstreitig der böseste Mensch der Monarchie.“ Doch nicht nur andere Akteure boten Perspektiven auf sein Leben, die sich als widersprüchlich erwiesen. Auch Sonnenfels selbst trug dazu bei, indem er sich - wie wahrscheinlich alle Persönlichkeiten, die sich in der Öffentlichkeit ihrer Zeit bewegen - für die Verbreitung eines bestimmten Selbstbildes einsetzte, das für den heutigen Betrachter den Blick auf sein Leben verstellt. Er erschuf gemeinsam mit einigen Studenten und Vertrauten konsequent eine öffentliche Figur 'Sonnenfels' - einen einsamen Kämpfer für die Ziele der Aufklärung, einen verzweifelter Verteidiger der Vernunft, der sich rückschrittlicher aber dennoch gefährlicher Widersacher erwehren muss. Diese Selbstdarstellung untermauerte er ebenso bei seinem Kampf gegen die Folter wie auch bei seinen Versuchen, improvisiertes Theaterspiel zu verbieten, in dem er eine Gefahr für Sitte und Moral des Wiener Publikums sah. Einer quellenkritischen Prüfung hält diese oftmals kontrafaktische Inszenierung jedoch nicht stand.

Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt rief sie bei den Zeitgenossen unterschiedliche Reaktionen hervor. So trat eine Vielzahl von Akteuren in unterschiedlichen Kontexten auf, um das Bild vom einsamen Aufklärer anzugreifen, meist um damit ihre eigenen Verdienste in einem besseren Licht erscheinen zu lassen; andere wiederum verteidigten die öffentliche Figur Sonnenfels und führten an seiner Seite einen Streit um die Deutungshoheit über sein Leben und Werk. Dieses Spannungsverhältnis äußerte sich im akademischen Kontext in einer Folge von Schriften und Gegenschriften, in denen seine Vorlesungen kritisiert oder verteidigt wurden und im Falle seiner Kritik am improvisierten Theater sogar in Spottstücken und Sonnenfelspersiflagen auf der Schaubühne.

Was bedeuten aber die aufgezeigten Widersprüche von unterschiedlichen Fremdperspektiven und Selbstdarstellung - die keineswegs nur bei Joseph von Sonnenfels, sondern bei vielen historischen Akteuren zu beobachten sind - für die biographische Forschung?

Für mich ergab sich daraus die methodische Konsequenz, alle überlieferten Nachweise für Kommunikationen, Wahrnehmungen, Bewertungen und Handlungen gleichberechtigt und gleichermaßen kritisch in den Blick zu nehmen, die eine Verbindung zwischen Sonnenfels und seinen Zeitgenossen herstellen. Dabei darf keinem Akteur - auch nicht Sonnenfels selbst - ein Vorrang für die Beschreibung und Deutung von Ereignissen eingeräumt werden.

Dies bedeutet, dass ein bereits bekannter und selbstverständlicher Baustein der klassischen Biographie, die sozialen Beziehungen, hier zum Mittelpunkt sowohl der Erforschung, als auch der Analyse und abschließenden Darstellung des Lebens wird. Die Biographie wird dadurch kurz gesagt zu nicht mehr und nicht weniger als der Summe aller nachweisbaren sozialen Interaktionen. Dies macht es einerseits möglich kausale Zusammenhänge aufzuzeigen, wie eine Patronagebeziehung, die Sonnenfels zu einem neuen Amt verhalf, ohne andererseits Brüche der Kausalität und Zufälle auszublenden, die in den sozialen Interaktionen ihre Spuren hinterlassen haben.

Allerdings birgt diese biographische Perspektive eine erhebliche Einschränkung in sich, die wiederum der Kritik Bourdieus an der Konstruktion eines in sich geschlossenen Individuums aus überlieferten Fragmenten seiner Existenz Rechnung trägt: Der Charakter des behandelten Individuums und seine mentale Entwicklung können nur dann thematisiert werden, wenn sie Niederschlag in seinen sozialen Interaktionen gefunden haben. Die innere Biographie als eigenständiges Element der Darstellung, also Einblicke in die 'Innenwelt' der Hauptperson und die Beantwortung der Frage: "Was war Sonnenfels für ein Mensch?" entfallen. Daher kann zur Kategorisierung der Arbeit auch eher von einer 'biographischen Studie', als von einer Biographie im klassischen Sinne gesprochen werden.

Stattdessen wird akzeptiert, dass es kaum möglich ist von einer singulären biographischen Wahrheit zu sprechen. Nicht nur Lügen in unterschiedlicher Form, sondern gerade auch die unterschiedlichen Wahrheiten Sonnenfels' und seiner Zeitgenossen, die sich aus den verschiedenen Blickwinkeln und aus Widersprüchen im Quellenmaterial speisen, verstellen den Blick. Wenn Sonnenfels für manche ein Schurke und für andere ein Held war, dann liegt der Schlüssel zum Verständnis seines Lebens und Wirkens möglicherweise in der Frage, wie diese beiden Perspektiven in Interaktion mit ihm entstanden sind, wer sie gegenüber wem vertrat und welche Wirkung sie auf seinen Lebensweg und auf die nachfolgende Sonnenfelsrezeption hatten. Hierin könnte ein Ansatz liegen, um Bourdieus Kritik an der biographischen Illusion aufzunehmen, denn durch die hier gewählte Perspektive entsteht hier keine in sich geschlossene Charakterstudie sondern eine Summe aller in Interaktionen bekleideten Rollen und aller Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung.

Für die Umsetzung dieses methodischen Ansatzes ist notwendig, die Vielzahl sozialer Beziehungen zu systematisieren, um sie analysieren und darstellen zu können. Hierfür bieten sich Kategorien der soziologischen Netzwerkanalyse an, die - wenn auch meist auf Basis homogenen Datenmaterials - zum Verständnis der Einflussmöglichkeiten von Akteuren in sozialen Systemen verwendet wird.

Dementsprechend wurden Sonnenfels' Beziehungen in Netzwerke gebündelt, die sich an bestimmte Räume sozialer Interaktion binden lassen, wie beispielsweise die Wiener Universität, die Akademie der bildenden Künste oder die böhmisch-österreichische Hofkanzlei. In jedem dieser räumlich gebundenen Netzwerke lassen sich dann zum Verständnis von Sonnenfels' Beziehungen und Einflussmöglichkeiten Elemente der Netzwerkanalyse nutzen, wenn auch eine simple Übertragung der soziologischen Methodik aufgrund der heterogenen Quellenlage und dem langen Betrachtungszeitraum nicht möglich ist.

Dennoch bleiben Elemente anwendbar, wie beispielsweise die Erarbeitung strukturbezogener Faktoren, worunter die Rahmenbedingungen oder Regeln verstanden werden, denen ein Netzwerk unterliegt und innerhalb derer es existiert. Dies bedeutet beispielsweise, dass, um Sonnenfels' soziale Interaktion im Kreis der Wiener Schriftsteller und Verleger zu verstehen, zunächst der soziale Handlungsraum der 'literarischen Szene' beschrieben werden muss. Dies umfasst die schlaglichtartige Beschreibung unter anderem von: gängigen Publikationsformen, wie die billige und schnell verbreitete Broschüre oder die regelmäßig erscheinenden moralischen Wochenschriften; einflussreichen Verlegern wie dem Hofdrucker Trattner oder seinem aufstrebenden Konkurrenten Kurzböck und ihren Einflussmöglichkeiten; gesetzlichen Rahmenbedingungen, wie der Zensur in Norm und Anwendung; oder Eigenschaften des Marktes, wie der umstrittenen Praxis des Nachdruckens von Schriften ohne Rücksprache mit dem Autor. Vor diesem Hintergrund können dann Sonnenfels' Handlungen, seine Vernetzung, die Wahrnehmung seiner Person und deren Folgen für seinen Lebensweg anhand systematischer Fragen erarbeitet werden, wie beispielsweise nach seinem Zugang zum sozialen Raum und Netzwerk, nach Förderern oder Konkurrenten darin, nach den Ressourcen, die dort vorhanden sind und danach, mit welchen Methoden Konflikte ausgetragen oder vermieden werden. Bezogen auf seine literarischen Tätigkeit zeigte sich Sonnenfels als vielseitiger Autor, der sowohl moralische Texte als auch unterhaltende Beiträge über die Reichen und Schönen Wiens verfasste, dabei unterschiedliche Verleger nutzte und sich als prominenter Gegner des Nachdrucks von Schriften in Szene setzte. Konkurrenten duldete er kaum und kämpfte aggressiv darum, der erfolgreichste Autor Wiens zu werden. Er beleidigte andere Schriftsteller in seinen Schriften, übernahm deren Konzepte und Themen und nutzte ein grenzübergreifendes Netzwerk von Rezensenten, um ihren Ruf zu untergraben. Hinzu kam die Möglichkeit, zeitweise als Zensurbeamter Einfluss zu nehmen und in Einzelfällen die Unterstützung einiger ranghoher Staatsbeamter zu mobilisieren. Durch sein Handeln und die Reaktionen darauf fanden neue Konfliktformen Verbreitung, die den sozialen Raum prägten und später gegen Sonnenfels selbst angewendet werden konnten.

Hierbei wurde eine Entwicklung erkennbar, die sich in fast allen untersuchten Netzwerken ähnelt. Zunächst war Sonnenfels abhängig von der Unterstützung eines Patrons, der ihm Zugang zum Netzwerk verschaffte. Später gelang es ihm, eine eigene Position aufzubauen, die auf vom Patron unabhängigen Beziehungen basierte. Seine gleichzeitige Präsenz in verschiedenen Netzwerken führte dann dazu, dass er als Vermittler oder Makler sozialer Beziehungen auftreten konnte und schließlich selbst von anderen schwächeren Akteuren als Beschützer und Förderer aufgesucht wurde. Daraus ergaben sich neue Patronagenetzwerke in denen Sonnenfels nun als dominanter Akteur auftreten und sich langfristig Unterstützung sichern konnte, die er netzwerkübergreifend mobilisierte, um Einfluss auf Politik und Gesellschaft im Wien seiner Zeit zu nehmen.

Diese nur skizzierte Betrachtung der Netzwerke und Orte sozialen Handelns führte im Zuge der ausführlichen Untersuchung dazu, dass vielgestaltige Kenntnisse über Sonnenfels' soziale Umwelt gewonnen und dargestellt werden konnten. Zahlreiche Fragen lassen durch die gewählte biographische Perspektive zwar nur exemplarisch, aber immer mit einem Bezug auf die übergreifenden Strukturen beantworten:

Wer traf sich in den Wiener Freimaurerlogen und welche Bedeutung hatten sie für die Karriere der einzelnen Mitglieder? Wie wirkte ein akademisches Netzwerk von Alumni bei öffentlichen Disputen? Wie konnten Hochschullehrer sich gegenseitig gegen Zensurbehörden unterstützen? Inwiefern hatte die Zugehörigkeit zum Zirkel eines bestimmten Wiener Verlegers Auswirkungen auf eine literarische Karriere in Wien? oder in Bezug auf die Reformprozesse: Wie entstanden politische Konzepte und wie wurden sie diskutiert und umgesetzt? Welche Rolle hatten der Monarch, seine Räte und die verschiedenen Hofkommissionen und wie konnte ein einzelner Akteur die politischen Strukturen seiner Zeit nutzen? Und ebenso wichtig: Wann und woran scheiterte er? Letztendlich wurde bei der Untersuchung aller dieser Fragen deutlich, dass es Sonnenfels' vielfache mal parallele mal verwobene soziale Vernetzung war, die ihm Unterstützung gegen Konkurrenten, Kontinuität im Falle eines Herrscherwechsels und die Möglichkeit bot, seine Fähigkeiten und seinen Ruf erst zu erwerben und dann zur Entfaltung zu bringen.

Abschließend möchte ich mich für die Gelegenheit bedanken, diese kurze Skizze vorstellen zu können, die als ein Beispiel für die methodische Vielseitigkeit dienen kann, die sich daraus ergibt, Personen in den Mittelpunkt historischer Betrachtung zu stellen. Lassen sie mich noch darauf hinweisen, dass ich in der Offenheit der Personengeschichte für neue Fragen und Methoden und ihrem bei weitem noch nicht ausgeschöpften Potential zur Kombination mit anderen Disziplinen ihre generelle Stärke sehe. Denn, wie ich mit meiner zu Anfang gegebenen Übersicht andeuten wollte, bedeutet diese Forschungsperspektive keineswegs, dass alte Fragestellungen des 19. Jahrhunderts an immer neuen Akteuren abgearbeitet werden, sondern meint in meinen Augen eine fundamental bedeutsame, zeitlose und daher hochaktuelle Betrachtungsweise, von der wir noch viele Innovationen und neue Erkenntnisse erwarten dürfen.